Die nun folgende Geschichte ist im Werte und Normen-Unterricht der 7. Klasse entstanden und gefiel den Kursteilnehmern und mir wirklich gut. Es lohnt sich, sie zu lesen, auch wegen ihres überraschenden Schlusses.
S. Hilgers-Wolf
Sündenböcke
Rollentausch
„Meine Hautfarbe tut doch nichts zur Sache!“ Ich stehe vor einem Schreibtisch aus dunklem Holz und hinter dem Tisch sitzt ein dicker Mann mit Brille und kleinen Augen, die mich gerade grimmig anstarren. „Sehr wohl!“, bellt er, „Es ist ja wohl jedem bekannt, dass Schwarze nicht zuverlässig sind und stehlen! So jemanden stelle ich ganz sicher nicht ein, trotz Personalmangels! Ich will nicht jeden Tag hunderte Euro ärmer sein!“
Ich seufze. Das ist nun schon mein zehnter Versuch in diesem Jahr, endlich Arbeit zu finden. Mein gespartes Geld geht langsam zur Neige, und wovon soll ich dann bloß leben? Ich wurde in Deutschland geboren, nur meine Mutter kommt ursprünglich aus Afrika, mein Vater von hier. Schon oft sind mir Menschen so begegnet wie der Mann vor mir, dessen Gesicht mittlerweile einen gefährlichen Rotton angenommen hat. „Es reicht mir jetzt! Raus hier, ich stelle Sie ganz sicher nicht ein!“ Dann richtet er sich auf und überragt mich um fast einen ganzen Kopf. Na gut, denke ich niedergeschlagen und gehe ohne eine Verabschiedung aus dem Raum.
Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich die Tür der Bank hinter mir zuzog. Der Automat hatte mir meine größte Angst offenbart; ich war pleite!
Meine Firma hatte letzte Woche geschlossen und jetzt war ich arbeitslos. Alle meine Mitarbeiter hatten gekündigt. Vielleicht hätte ich dem schwarzen Mann, der vor einem knappen Jahr bei mir ein Vorstellungsgespräch hatte, doch eine Chance geben sollen. Seit ein paar Tagen denke ich immer wieder an ihn, obwohl ich eigentlich nie wieder an ihn hatte denken wollen. Möglicherweise irrte ich mich ja auch und er war ehrlich!
Nun gut, morgen würde ich mich neu bewerben und dann wäre die Zeit meiner Arbeitslosigkeit vorbei. Ich hatte eine sehr gute Ausbildung und viel Erfahrung und würde der neuen Firma sicher eine große Hilfe sein.
Als ich am nächsten Tag das Büro meines baldigen neuen Chefs betrete, schlucke ich. Ich kenne die Person, die hinter dem Schreibtisch sitzt. Es ist der Schwarze, dem ich vor einem Jahr eine Arbeitsstelle versagt habe und an den ich in den letzten Tagen beinahe ununterbrochen gedacht habe. Der Chef der Firma lächelt mich freundlich an, doch sein Blick ist wachsam. Plötzlich tut es mir sehr leid, ihm keine Stelle gegeben zu haben. Ich habe eine Ahnung, was nun kommt, doch ich hoffe, sie ist falsch.
Der Schwarze begrüßt mich nun. „Guten Tag. Wir kennen uns, nicht wahr?“ Ich nicke, meine Kehle ist wie zugeschnürt. „Ich brauche dringend Personal“, sagt der Chef. „Das ist der Grund, warum ich Sie überhaupt einstellen würde. Ich will Ihnen zeigen, in welcher Situation ich damals war, aber ich möchte auch nicht den gleichen Fehler wie Sie begehen… Ich stelle Sie ein!“ Ein Stein fällt von meinem Herzen. Ich lächele erleichtert und gebe meinem neuen Chef die Hand. Als er meinen Händedruck erwidert, wird mir bewusst, wie sehr ich mich von meinen Vorurteilen habe leiten lassen.
Merle Herbst